Wenn ich Unterricht sehen darf, dann kommt es immer wieder vor, dass die Schülerinnen und Schüler nicht wissen, was das eigentliche Ziel der Stunde ist und wohin die Reise, die die Lehrkraft anstrebt, eigentlich geht.
Wenn Lehrkräfte dann gefragt werden, wieso sie den Schülerinnen und Schüler die Ziele oder den Ablauf des Unterrichts nicht transparent machen, erhält man häufig die Antwort, man wolle den Aha-Effekt nicht vorweg nehmen. Warum diese Vorgehensweise aus meiner Sicht in den meisten Fällen keinen Sinn macht, möchte ich hier erläutern und versuchen, an Beispielen deutlich zu machen.
Ich werde den gesamten Sachverhalt in den Kontext der Beruflichen Bildung setzen. Die Schülerinnen und Schüler in diesem Bereich sind in der Regel mindestens 15 Jahre alt und haben ein klares Ziel vor Augen. Entweder wollen sie auf diesem Bildungsgang endlich einen Schulabschluss erreichen, einen höheren Schulabschluss machen oder eine Ausbildung beenden.
Ob die hier ausgeführten Punkte auch für die allgemeinbildenden Schulen Gültigkeit haben, kann ich nicht in Gänze beurteilen, bin mir aber sicher, dass die Unterschiede nicht groß sein können. Vielleicht kannst Du dich, wenn Du in dem entsprechenden Bereich tätig bist, an einer Diskussion beteiligen.
Ohne Ziel treffe ich immer
Ohne eine Vorstellung davon, was der Unterricht erreichen möchte, ist jede Unterrichtsstunde gelungen! Dann brauche ich nur ein bisschen Spaß machen und die Schülerinnen und Schüler unterhalten und schon sind mir alle wohlgesonnen und finden den Spitau cool. Da ich aber in einem Bildungssystem und nicht in einem Unterhaltungssystem arbeite, ist das das falsche Herangehen.
Wenn ich Schülerinnen und Schüler am Anfang aufzeige, was heute erreicht werden kann, was ihr Weg des Lernens sein kann, dann kann ich auch am Ende erfragen und reflektieren lassen, ob wir das Ziel erreicht haben oder nicht. Wenn es nicht der Fall sein sollte, kann ich weiterhin herausfinden, wo noch bedarf ist. Ziele abzufragen ist eben etwas anderes als: „Habt ihr das jetzt alles verstanden?“
Die Zaubervorstellung
Um meine Sicht der Dinge deutlicher darzustellen, möchte ich zwei Situationen aufzeigen, die zwar außerhalb von Schule stattfinden, die meine Struktur des Ganzen recht gut darstellen.
Situation Nummer 1
Stellen wir uns vor, man geht in eine Zaubervorstellung. Der Magier präsentiert einen Trick nach dem anderen und wir lassen uns von der Show verzaubern. Hin und wieder sind wir über die unvorstellbaren Effekte verblüfft und fragen uns, wie der Zauberer das wohl gemacht hat und vermuten vielleicht sogar partiell übernatürliche Fähigkeiten. Man hat sich unterhalten lassen und fährt vergnügt nach Hause.
Situation Nummer 2
Man geht nun in ein Seminar, in dem man Zaubertricks lernen will. Der Magier sagt einem, was gleich passieren soll und führt den Trick durch. Man überlegt, wie der Trick funktioniert und bekommt dann von dem Magier erklärt, wie die Illusion funktioniert. Man hat sich unterhalten lassen, Theorien gebildet und verworfen und hat einige Illusionen gelernt.
Transfer und Analyse der Situation
Was passiert in diesen Situationen mit dem Beobachter bzw. dem Teilnehmer der Veranstaltungen?
- In der ersten Situation wird der Zuschauer in neue und unbekannte Situationen geworfen. Die bisher in der Welt gemachten Erfahrungen werden durcheinander geworfen. Es passieren Dinge, die nach physikalischen Gesichtspunkten in der Regeln nicht gehen dürften. Das Gehirn wird ausgetrickst. Man ist verblüfft, aber man hat nichts Neues gelernt.
- In der zweiten Situation wird das Gehirn schon vor der Durchführung der Darbietung in Bereitschaft gesetzt, neue Informationen zu verarbeiten. Die Lösungsvorschläge für die erwartete Darbietung werden bereits konstruiert. In dem Moment, in dem die Darbietung stattfindet, wird der eigene Lösungsvorschlag bestätigt oder verworfen. Durch eine nachträgliche Erklärung der Illusion des Magiers wird das Gesehene verarbeitet.
In der Zaubervorstellung wirst Du niemals erleben, dass der Zauberer Dir sagt, was gleich passiert. Und wenn er es doch tun sollte, dann ist es sicherlich nur eine Art der misdirection – er führt Dich auf eine falsche Fährte. Den Effekt, das „Ahh“ und „Ohh“ nicht vorherzusagen ist also eine typische Technik um
- den Beobachter nicht mit der Nase darauf zu schubsen, wie eine Illusion funktioniert,
- so wenig wie möglich von seinen Illusionen erkennen zu lassen,
- das Ziel des Ganzen nicht zu verraten und
- keinen Lernerfolg beim Zuschauer zu erzeugen.
Der Unterricht
Bezogen auf den alltäglichen Unterricht möchte auf Folgendes hinaus:
Die Wahrscheinlichkeit, dass die Schülerinnen und Schüler Themen aufnehmen, sich dafür interessieren und Kompetenzen in diesem Bereich entwickeln, ist höher, wenn ihnen ganz klar ist, was in einer Unterrichtseinheit passiert und welche Ziele die Lehrperson verfolgt.1
Erst das Ei, dann das Huhn…
Um die Ziele den Schülerinnen und Schüler transparent machen zu können, muss der Lehrkraft das Ziel der Unterrichtseinheit ganz klar sein. Bevor Du beginnst Deinen Unterricht zu planen, musst Du die Ziele sauber formuliert haben – jedenfalls dann, wenn Du eine professionelle Lehrperson sein möchtest.
Das alte Bauhausmotto2 „Die Form folgt der Funktion“3 ist Grundvoraussetzung für die Vorbereitung Deines Unterrichts.
Haltung annehmen
Ein weiterer Punkt, der mit dem Darstellen der Ziele zusammenfällt, ist eine bestimmte Haltung der Lehrperson sich und den Schülerinnen und Schüler gegenüber. Selbst wenn der Unterricht am Schreibtisch sehr gut vorbereitet wurde, in Klasse gibt es immer wieder Situationen, die es verlangen, von dem geplanten Vorgehen abzuweichen.
Diese Abweichungen dürfen von der Lehrkraft natürlich nicht als Unvermögen wahrgenommen werden, sondern als ein Prozess der vollständigen Handlung, als ein Bild von professionellem Handeln, als ein Vorbild für positive Fehlerkultur und lebenslangem Lernen. Dieses Vorgehen, das Abweichen oder Verwerfen eines Konzeptes, muss den Schülerinnen und Schülern in dieser Phase auch transparent gemacht werden. Dazu darf sich die Lehrkraft selbst nicht als allwissendes, sondern selbst als lernendes Individuum sehen. Ein Lehrkraft, die Fehler macht, ihre Entscheidungen in Frage stellt, vorbereiteten Unterricht in der akuten Aktion ändert und dieses vor der Klasse begründet, zeigt ein hohes Maß an Professionalität.
- Noch viel besser ist es, wenn die Schülerinnen und Schüler ihre Ziele selbst formulieren. Dann erkennen Sie anhand des Weges, den die Lehrperson vorschlägt, die Lücke, die sie in einem Themenbereich haben und können so festlegen, was sie heute oder in der Unterrichtseinheit lernen wollen. [↩]
- Ich meine nicht die Baumarktkette! 😀 [↩]
- Das soll heißen das methodische Vorgehen in der Stunde ist in jeglicher Form davon abhängig, welche Ziele verfolgt werden. [↩]
Lieber Herr Spitau,
der Beginn jeder meiner Unterrichtstunden besteht darin, den Schülern transparent mitzuteilen, worin die Ziele der Stunde bestehen. Auch Fünftklässler, egal ob Mittschüler oder Gymnasiasten kommen damit bestens zurecht. Ich habe auch feststellen können, dass die durch mich als Lehrerin verursachten Störungen dadruch massiv zurückgegangen sind. Der „Fahrplan“ und die Ziele der Stunde stehen an der Tafel. Und ich gebe Ihnen recht, dass es dadurch auch leichter wird, vom vorher geplanten abzuweichen. Ich habe bis jetzt immer die Erfahrung machen dürfen, das die Schüler solchen Unterricht mögen und sich immer mehr sinnstiftend einbringen. Ich glaube, das hängt mit dem von Ihnen beschriebenen Effekt zusammen – etwas neues zu lernen ist auf Dauer wesentlich befriedigender, als „nur“ unterhalten zu werden. Schon ganz früh lockt die Institution Schule damit, dass man durch den Aufenthalt in ihr „viele neue Dinge“ lerne und hinterher „mehr könne als vorher“. In meinen Augen ist es nur fair, den Schülerinnen und Schülern auch aufzuzeigen, worin dieser Mehrwert besteht.
In diesem Sinne also – weiter so! Mein Stimme haben Sie :o)
Hallo Franziska,
vielen Dank für den Kommentar und vielen Dank für Ihre Stimme. 🙂 Sie haben gerade einen Bereich in meinen wirren Hirnwindungen getriggert: Wenn die Schülerinnen und Schüler am Anfang der Unterrichtseinheit gezeigt bekommen, was sie erwartet und sie dann am Ende die Ziele reflektieren, dann können sie quasi live und in Farbe erkennen, WAS sie gelernt haben.
Wenn Papa oder Mama zuhause fragt: „Was hast Du heute in der Schule gelernt?“, kann der Lernende vielleicht sogar eine gute Antwort geben, weil ihm im Unterricht deutlich gemacht wurde, was er gelernt hat.
Super! Sie haben auch meine Stimme 😉
>Ohne Ziel treffe ich immer
Sehe ich auch so; meinen Studenten an der Uni zeige ich dazu immer einen Cartoon vom texanischen Scharfschützen, der erst schießt und dann die Zielscheibenkreise um das Einschussloch herum malt.
Ich müsste noch einmal herauskramen, wo ich aber das gelesen habe, dass in kompetenzorientiertem Unterricht das Konzept „Lernziel“ überholt ist. (Aber da liest man ja ohnehin immer viel Käse.) Sind Ziele immer Lernziele?
Ich nutze ein ähnliches Bild, aber nicht als Cartoon, sondern mit mir als Akteur. (Auf Grund der fehlenden Visualisierung.) Ich laufe dann immer quer durch den Raum – mit imaginärem Pfeil und Bogen. Dennoch sind viele Unterrichte, gerade wenn jemand zu Besuch kommt, häufig andersherum geplant. Das merkt man häufig auch an der Stunde. Nein Ziele sind nicht immer Lernziele – Aus meiner beschränkten Sicht.