Der Weg der Bildung und dem vermeintlichen Vermitteln von Wissen, stößt immer wieder auf Missverständnisse. Es gibt zwar Rahmenlehrpläne, an die sich alle Anbieter von Bildungsabschlüssen halten müssen, was aber im Umkehrschluss nicht heißt, dass alle Schülerinnen und Schüler nach dem Durchlaufen des Bildungsganges das gleiche Wissen, geschweige denn die identischen Kompetenzen aufweisen. Diese Tatsache stößt nicht nur bei Eltern und Betrieben auf Unverständnis, sondern auch bei einigen Kolleginnen und Kollegen.
Um den Beteiligten zu erklären, warum man nicht exakt das Gleiche von unterschiedlichen Individuen erwarten kann, endet meistens in einem Vortrag über Konstruktivismus, Stärken stärken, positiver Feedbackkultur und Binnendifferenzierung. Sicherlich sind dieses richtige Stichpunkte, die aber bei den Gesprächspartnern hin und wieder so ankommen, als seien es faule Ausreden, um seine Inkompetenz zu verschleiern, denn schließlich gäbe es ja einen einen Lehrplan und in diesem stünde ja alles, was die Schülerinnen und Schüler wissen müssten.
Die Handschriften-Metapher
Um auf diese Nachfragen adäquat zu antworten, bin ich irgendwann auf die „Handschrift-Metapher“ gekommen, die mir in der Regel hilft, Gesprächspartnern dieses vermeintliche Problem zu erklären.
Alle in Deutschland aufgewachsenen Menschen einer Generation haben in der Regel die gleiche Schreibschrift in der Schule gelernt und dennoch haben wir alle eine eigene, individuelle Handschrift. Müssten wir – die ehemaligen Schülerinnen und Schüler – nicht in der Lage sein, das Gelehrte 1:1 umzusetzen und somit alle mit der gleichen Handschrift schreiben? Müsste diese Schrift nicht bei uns allen gleich aussehen? Was ist da eigentlich schief gelaufen? Oder: Ist da überhaupt etwas schief gelaufen?
Halten wir fest: Auch wenn wir alle eine unterschiedlich Handschrift haben, können wir uns in der Regel mit dieser verständigen. Hier und da kann es mal komplizierter werden, aber grundsätzlich kann man die Schrift eines anderen lesen. Somit ist doch das eigentliche Ziel der Lehrkräfte von damals erreicht: Wir können uns mit Hilfe der Schrift verständlich machen und unsere Gedanken für andere auf Papier bannen. Also: Da ist nichts schief gelaufen. Es hat prächtig funktioniert!
Die Verallgemeinerung
Die Grundlagen, die wir in einem zu lernenden Bereich mitgeteilt oder gelehrt bekommen, sind für jedes Individuum gleich oder beruhen auf der gleichen Basis. Die Frage ist dann, was jedes Individuum aus der Basis machen kann und will, um das verfolgte Ziel zu erreichen. Da gibt es aus meiner Sicht zwei Veränderungen, die vorgenommen werden können.
- Die individuelle, unbewusste Ausprägung des Gelernten.
- Die individuelle, bewusste Ausprägung des Gelernten.
Ausprägungen eines gelernten Gegenstands sind immer individuell. Das hat unter Anderem damit zu tun, dass wir nichts gelehrt bekommen, sondern sich das zu Lernende immer bei dem Individuum selbst entwickeln muss.
Unbewusst sind diese Ausprägungen immer, wenn kein Ziel oder kein gewollter Sinn in dieser Individualität steckt, diese also quasi automatisch gemacht werden.
So sind Grafologen der Meinung, die Schrift gäbe eine gewisse Geisteshaltung wieder.1 Es sind sich sicherlich viele Leser dieser Zeilen nicht bewusst darüber, aus welchen Gründen ihre Handschrift von der damals gelernten „Normschrift“ abweicht.
Bewusste Änderungen und Abweichungen von einer Norm oder der vermeintlichen objektiven Wahrheit, sind auch häufig in den Handschriften zu erkennen. Es gibt I-Punkte, die durch Herzchen ersetzt werden, Buchstaben, die verschnörkelt werden und und und…
Egal ob die Ausprägung bewusst oder unbewusst ist, in der Regel kann man den Kommunikationspartner verstehen. Die Schrift kann gelesen, der Text kann verstanden werden und man bekommt noch eine Botschaft über den Schreiber mit.
Bezug auf andere Themen
In meinen Augen gibt es in allen Bereichen des Lebens diese Arten der Modifikation: Im Sport (Fosbury-Flop), im Unterricht (Flipped Classroom), beim Kochen (Molekularküche), in der Sprache (Kanak Sprak), in der Kampfkunst (Jeet Kune Do) etc.
In allen Bereichen gibt es allgemein gültige Regeln bzw. Ziele, an die man sich hält, damit die Dinge funktionieren oder man sich über ein Thema austauschen kann. Aber man kann, darf und muss sogar im gewissen Rahmen diese Regeln überschreiten und brechen.
- Ohne eine Überschreitung bestimmter Grenzen ist keine Innovation möglich.
- Ohne eine Überschreitung bestimmter Grenzen wäre Individualität nicht möglich.
- Ohne eine Überschreitung bestimmter Grenzen wäre eine Entwicklung eines Themenbereichs nicht möglich.
Zum Ende – Euer Senf
Sicherlich ist diese Metapher noch nicht bis zum Schluss durchdacht! Es ist ein Denkansatz, der verhelfen soll den dargestellten Sachverhalt besser darzulegen. Ich freue mich auf Eure Kommentare und eine anregende Diskussion.
- Ob man aus der Schrift eindeutige Rückschlüsse auf den Charakter ziehen kann, möchte ich nicht diskutieren, dazu fehlt mir das Fachwissen. [↩]
In Lehrpläne steht allerdings nicht, was Schüler wissen müssen, sondern was Schüler können sollen. Und ein Ziel der Schreibdidaktik ist ja geradezu, dass Schüler eine eigene Handschrift entwickeln.
Dem Fazit stimme ich natürlich zu: Ohne eine Überschreitung bestimmter Grenzen ist keine Innovation möglich. Ohne eine Überschreitung bestimmter Grenzen wäre Individualität nicht möglich.
„Natürlich“ deshalb, weil das so wohl jeder runterschreiben wird. Nur wo die bestimmten Grenzen liegen, da unterscheiden sich die Meinungen.
Mir ist noch nicht ganz klar, wofür die Schreibschrift eine Metapher ist. Dass man beim Lernen auf Basis gemeinsamer Grundlagen allein weiterarbeiten muss, und dabei anderswohin kommt als andere, und dass das gut so ist? Sehe ich jedenfalls so.
Ich bin mir darüber bewusst, was in den Lehrplänen steht, bzw. stehen sollte 😉 Die Aussage im ersten Absatz soll ja eine indirekte Rede der Gegensprecher sein! Denn ich bin mir sicher, dass nicht alle potentiellen Gesprächspartner wissen (sic!), dass die Lehrpläne als Ziele Kompetenzen haben und nicht etwa Wissen. Diese Annahme steht immer wieder in Gesprächen aus dem schulischen Kontext im Raum.
Da ich mich bisher noch nicht mit der Schreibdidaktik auseinandergesetzt habe, erfreue ich mich geradezu an Deinem Hinweis, dass es dort darum geht, eine echte eigene Handschrift zu bilden!
Mit dieser Metapher mache ich immer wieder deutlich, dass unterschiedliche Individuen (in diesem Fall Schülerinnen und Schüler) nicht in der Lage sein können, das Gleiche zu wissen oder zu können. Die Metapher der Handschrift kann somit für alle zu erlernenden Bereiche eingesetzt werden. Man kann daran erkennen, dass es die Wahrheit in einem Bereich nicht gibt und es viele Interpretationen der Wirklichkeit gibt.
Für einen waschechten Pädagogen (in diese Schublade stecke ich Dich jetzt mal) sind das sicherlich keine neuen und bahnbrechenden Erkenntnisse, verhilft es aber -gerade in Diskussionen mit Eltern, Schülerinnen und Schülern, Ausbildern und „Nicht-Pädagogen“- deutlich zu machen, was es heißt, Kompetenzen zu entwickeln und eben nicht Wissen einzubimsen.
Waschechter Pädagoge… nein, bin eigentlich nur ein hochstapelndes Würstchen, ehrlich.
He, he… Ein gewisses Understatement der Herr 😉