Es ist kalt

friedhof

Ich weiß, dass ich nicht mehr lange unter meinen Lieben verweilen werde. Die Tage im Krankenhaus haben mich geschwächt. Nach und nach entweicht die Lebenskraft aus meinem Körper. Jeder Atemzug wird schwerer und schwerer. Ich spüre, wie Annette meine Hand hält und ihre Tränen meine Finger hinunter fließen.

Da war es wieder – das Drücken am ganzen Körper. Es ist stärker geworden. Die Frequenz scheint sich zu erhöhen. Das Pochen aus der Ferne beschleunigt. Ich warte auf das nächste Drücken. Die gefühlte Schwerelosigkeit der letzten Wochen nimmt ab. Die Schwerkraft übernimmt. Das Drücken ist nun noch heftiger. Zwei Kräfte wirken auf mich. Die Schwerkraft und der Druck aus allen Richtungen auf meinen gesamten Körper.

Ich höre Annette weinen: »Leb wohl.« Es schmerzt, ihr nicht antworten zu können. Langsam schließe ich meine Augen. Sie erblicken das letzte mal Annette. Noch spüre ich ihre Hand und wie sie laut weinend ihren Kopf auf meine Brust legt.

Volles Bewusstsein über das Sein, den Sinn des Lebens und alles darüber hinaus erschließt sich mir in Bruchteilen von Sekunden und ist so präsent als sei es nie vergessen gewesenen. Der Kosmos ist eins mit mir und bietet mir ungeahnte Möglichkeiten. Ich entscheide.

Ich höre unbekannte Stimmen, fremde Sprachen. Ernste Worte. Ruhige Worte. Laute Worte. Der Druck erhöht sich wieder. Mein Kopf wird eingequetscht. Mein Schädel verformt sich. Ein Stirnband aus Druck legt sich um ihn. Ruhe. Stille. Nur Druck! Mein Körper wird vorwärts gedrückt. Das Band legt sich über Augen, Nase, Mund, Kinn. Nun schmiegt es sich um meinen Hals. Keine Beklemmung oder Atemnot. Es wird hell. Durch meine geschlossenen Augen nehme ich tausend Sonnen war. Ich verhalte mich ruhig. Die Augen geschlossen. Keine Atmung. Keine Panik. Ruhe in jedem Moment.

Ich spüre einen anderen, kälteren Druck unter meinem Kinn. Mit den wiederkehrenden Pressungen meines Körpers, werde ich am Kinn gezogen. Mit einem Mal ist es kalt. Ich weiß, ich habe es so verdient und es mir ausgesucht. Das hier ist ein Anfang.

Indem ich bewusst und ohne Zwang alle meine Kraft zusammennehme und ein weiteres Mal einen tiefen ersten Atemzug nehme, beginne ich mein neues Leben.

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